Der kleine Drache Himmelblau von Karin Hager

Es gab einmal einen kleinen Drachen. Er war noch sehr klein und saß in seinem Nest auf einem hohen Baum mit seinen Geschwistern. Es war ein sehr stabiles und gemütliches Nest, aus starken, elastischen Zweigen und feiner Polsterung aus weichen Moosen und Daunenfedern, die die fleißigen Dracheneltern in mühevoller Kleinarbeit gesammelt hatten, damit es ihren Drachenkindern gut gehe. Eines seiner Geschwister war olivgrün, ein anderes meerblau, eines war tannengrün, dann gab es ein türkisgrünes und der kleine Drachen selbst war himmelblau. Sie spielten viel miteinander. Manchmal stritten sie sich auch - besonders als sie immer größer wuchsen und das Nest immer enger für sie wurde. Eines Tages hatte das mutigste Geschwisterchen, das tannengrüne, die Schnauze voll vom Gerangele, faßte sich ein Herz und flog aus dem Nest und landete glücklich auf einem großen Ast eines Baumes. Dann flog es zum Erdboden und wieder zurück in den Baum. Die anderen Geschwister schauten gespannt zu, vergessen war jeder Streit - zumindest für die nächsten fünf Minuten. Sie sahen, wie schön so Drachenflügel aussehen, wenn sie ausgespannt den Wind einfangen, wie schön die Sonne auf den Drachenschuppen glitzert und wieviel Freude das tannengrüne Geschwisterchen am Fliegen hat. Dem meerblauen Geschwisterchen juckte es auch bald in den Flügeln. Es faßte all seinen Mut zusammen und sprang aus dem Nest und bald genoß es das Fliegen so wie das tannengrüne. Die beiden tobten in der Luft, am Boden und im Baum umeinander und juchtsten vor Freude. Da konnten die anderen Geschwisterchen nicht lange zusehen und stürzten sich auch in das Abenteuer Fliegen. So flogen nun das tannengrüne, das meerblaue, das olivgrüne und das türkisgrüne Drachenkind durch die Luft und freuten sich am Fliegen. Nur das himmelblaue Drachenkind saß verzagt in seinem Nest. Es hatte jetzt zwar jede Menge Platz, aber dafür niemanden mehr zum Spielen. Das ist ganz schön langweilig. Die anderen sahen dies und neckten ihn: “Angsthase”, riefen sie und “Feigling”, “Memme”, “kommm doch, wenn du dich traust” und “Nesthäckchen”. Dann erfanden sie ein Spottlied und sangen es mit boshaft wachsender Begeisterung: “Du glaubst es kaum, ich tu nicht lügen, Himmelblau hat Angst vorm Fliegen!” Das konnte der kleine Drache Himmelblau nicht auf sich sitzen lassen. Mutig ging er zum Rand des Nestes und ... sah hinunter! “Hilfe ist das tief! schrie Himmelblau entsetzt auf, “da bin ich ja tot, wenn ich runter falle oder schlimmer noch: ich breche mir alle Knochen!” Die anderen hörten dies und lachten. Sie lachten so sehr über Himmelblau, daß er sich tief ins Innere des Nestes zurückzog und sich duckte, damit niemand ihn sehen konnte. Dann fing der kleine Drache bitter zu weinen an. Er hatte solche Angst! Er ist ein Drache und hat Angst vorm Fliegen! Er schämte sich so sehr, daß er wünschte, er würde sterben. Irgendwann schlief er dann voller Erschöpfung ein. ...

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